Mini, mikro, Mem

… und das grosse Ganze

Heute kanns nicht klein genug sein. Unser Fokus richtet sich auf immer kleinere Einheiten, und die verbreiten sich immer schneller. Ich schaffe es kaum, dem viralen Treiben zu folgen. Es überholt sich – und mich – in Realtime.

 

Ganz gross unterwegs sind derzeit zwei Kleine: das berüchtigte Virus mit dem komplizierten Namen und das unscheinbare Mem mit dem einfachen. Es heisst Angst. Welches zuerst loszog? Wer weiss. Ein Mem, besser bekannt unter dem englischen Begriff «meme», ist das kulturelle Pendant zur biologischen Grundeinheit Gen, nämlich eine Bewusstseinseinheit, eine Idee, ein Gedanke, eine Überzeugung, ein Trend. Meme verbreiten sich von Wirt zu Wirt. Das Angst-Mem treibt uns grad auseinander – und Blüten in Form von Spin-off-Memen. Nennen wir sie Narrativ-Meme: Theorien, Statistiken, Meinungen, Parolen, Buzzwords, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich ebenfalls alle rasant verbreiten. Und so finden wir uns in nie da gewesenem Ausmass überwältigt von kleinsten Einheiten. Weltweit «locked down» und desorientiert. Die Macht des Kleinen!

Haben wir uns im Kleinen verloren? In Spezialisierung, Digitalisierung, Individualisierung, also zunehmend eingeschränktem Blickwinkel? Ist uns der Blick aufs grosse Ganze abhandengekommen? Zeigt uns das Kleine gar derzeit ironischerweise, dass wir als Menschheit ein einziger grosser Organismus sind? Und dass das Ganze wirklich mehr ist als die (berechenbare) Summe aller Teile? Keine Ahnung. Aber was ich weiss: Einzoomen ist gut, auszoomen ist gut, Blickwinkel wechseln auch. Vielleicht sogar existenziell.

Und nun der waghalsige Schwenk zur Sprache, zur geschriebenen: Ja, Idee und Inhalt eines Textes sind fundamental, das Grosse. Die präzise Formalisierung, das Kleine, ebenso. Die Form trägt den Inhalt. Und ist sie geschliffen, geht das Mem schneller und glatter durch. Die Arbeit an der Form beginnt bei der Grobstrukturierung und endet im weitläufigen Reich des Kommas. Und dass ein solches über Leben und Tod entscheiden kann, hab ich schon als Kind von meiner Mutter gelernt – am Beispiel des Königs, der geschrieben hat: «Ich begnadige, nicht hängen!» Oder war es: «Ich begnadige nicht, hängen!»?

PS: Im Titel hats streng genommen einen Fehler: «mikro» (kleingeschrieben) hat keinen Dudeneintrag als eigenständiges Wort, sondern nur als Wortteil in Zusammensetzungen: «mikro-». Aber weil «mini» als offizielles Adjektiv bereits Wortstatus hat, erlaube ich mir, diesen auch «mikro» zu attestieren. Der Rock ist mini. Der Unterschied ist mikro.

AOPatrizia Villiger